Halbjahres-Leiden
Liegestühle sind ein fester Teil in Gottes Schöpfungsidee, mit denen er seine menschlichen Kinder auf Geduldsproben stellt. Die klassische Literatur stellt bereits Beispiele dafür, daß selbst große Köpfe wie Thomas Mann gegenüber Liegestühlen versagten und nur noch Hoteldiener den Liegestuhl aufbauen ließen (Tod in Venedig) oder Oscar Wilde, der seine intimen Freunde danach auswählte, ob sie in der Lage waren, dieses große Rätsel der Schöpfung (den richtigen Aufbau von Liegestühlen) für ihn zu lösen (Tagebücher zu Bildnis des Dorian Day). Christine jedenfalls erlitt heute einen Sympathieeinbruch bei mir, der ich - ritterlich wie ich bin - ihren Liegestuhl aufzubauen versuchte, nicht einmal meinen. Sie bekam während meiner Bemühungen einen Lachkoller. Außer ritterlich bin ich aber auch sensibel, besonders in Situationen wo Ritterlichkeit in Lächerlichkeit umschlägt. Der Höhepunkt dieser Situation, in der ich meine Hilfsbereitschaft mit besonders empfindlicher Strafe belohnt sah, war dieser: Ich versuchte mit meinem im oberen Holzgelenk des Liegestuhls geklemmten Zeigefinger ebenso erneut wie vergeblich die Fußquerstange parallel zur oberen Kopflehnenstrebe zu zerren. Die vorherigen friedlichen, von ruhiger, praktischer Intelligenz diktierten Handlungskonzepte waren allesamt nur darin gegipfelt, daß Christine mit wachsender Aufmerksamkeit meine Mühewaltung beobachtete. Und mit ihr dann die anderen Gäste im sozialen Umfeld des Schwimmbeckens. Ebenso wie für einen klassischen Wasserhahn - einen mit links (rot) warmem Wasser und mit rechts (blau) kaltem keine Gebrauchsanleitung mitgegeben wird, gibt es für diese verfluchten Liegestühle („Klassiker" las ich in der Reklame für genau diese Dinger hier am Schwimmbecken) natürlich auch keine Gebrauchsanweisung. Der Höhepunkt also bestand darin, daß ich im Moment des Parallelisierens beider verbogen scheinender Holzstreben das Gleichgewicht verlor und, um dieses wiederzufinden, mit einem Bein zwischen Liegestuhlleinwandrand und Seitenstrebe geriet - und eben hier begriff, was eine Geduldsprüfung Gottes ist. Christine zuckte lautlos hinter ihrem Buch, ihre Nachbarn wandten sich betont taktvoll ab und ich und mein Gefühl befanden, daß es Zeit sei, alle anzuschreien und zum Teufel wünschen. Davor aber hat Gott eben die Einsichtsfähigkeit von Menschen, genauer meine, gesetzt. Ich erkannte, wozu eine solche Prüfung Sinn macht. Liegestühle, erkannte ich, sind dafür da, den anderen die Gelegenheit zur Schadenfreude zu geben. Und Schadenfreude bedeutet immer auch die günstige Abfuhr von verdeckten Aggressionen und eigenen Versagensängsten. Für weniger schadenfreudige, sondern mehr anteilnehmende Lebewesen ist eine solche Szene Anlass zur tiefen Dankbarkeit, daß einem Helfer in der Not geschickt wurden, die einem den Liegestuhl aufstellen. Nur Christine und ihre rüpelhaften Nachbarn gehörten nicht dazu. Weswegen ich für mich daraus lerne: Nur noch machen lassen und auf jede Ritterlichkeit verzichten. Wie Thomas Mann und Oscar Wilde. Bei Liegestühlen.
14. Mai 1996